Bullwhip-Effekt

Der Begriff "Bullwhip-Effekt" oder auch "Peitscheneffekt" hat sich als Begriff zur Beschreibung eines Phänomens in komplexen Lieferketten etabliert. Die Bezeichnung "Bullwhip-Effekt" geht auf den Wissenschaftler Jay Forrester zurück, der in den 1970er Jahren erstmals auf die verstärkende Wirkung von Nachfrageschwankungen entlang einer Lieferkette hinwies. Er beobachtete, dass selbst kleine Schwankungen in der Endkundennachfrage zu deutlich größeren Schwankungen in den Bestellmengen entlang der gesamten Lieferkette führen können. Dieser Effekt wird daher auch als "Forrester-Effekt" bezeichnet. Die alternative Bezeichnung "Peitscheneffekt" wurde von Hau L. Lee geprägt und veranschaulicht die verstärkende Wirkung, die mit jedem Glied der Lieferkette zunimmt, ähnlich wie bei einem Peitschenhieb.

Bedeutung

Konkret bedeutet der Bullwhip-Effekt, dass eine anfängliche, kleine Veränderung in der Endkundennachfrage zu einer zunehmenden Verzerrung der Bestellmengen entlang der gesamten Lieferkette führen kann. Setzt bspw. ein Einzelhändler plötzlich größere Mengen eines bestimmten Produktes ab, so bestellt er etwas zeitverzögert eine größere Menge des Produktes beim Großhändler. Dieser wiederum bestellt nicht nur die üblicherweise benötigte Menge bei seinem Hersteller, sondern reagiert auf die erhöhte Nachfrage des Produktes ebenfalls mit einer größeren Bestellmenge bei seinem Lieferanten, um zukünftigen Nachfrageschwankungen vorzubeugen. Dieser Mechanismus der Mehrbestellungen setzt sich entlang der gesamten Lieferkette fort, sodass am Ende der Kette bspw. durch prozentual aufgeschlagene Sicherheitsmengen deutlich höhere Bestellmengen anfallen, als durch die ursprüngliche Nachfrageschwankung tatsächlich begründet wären.

Im schlimmsten Fall kann der Bullwhip-Effekt zu einer Destabilisierung der gesamten Lieferkette führen, denn unbegründet erhöhte Bestellmengen führen unweigerlich dazu, dass die gesamte Lieferkette Produkte in nicht nachgefragten Mengen produziert, liefert und lagert, was zu Knappheit, erhöhten Kosten, aber schlussendlich auch zu Überproduktion und massiven Überbeständen führen kann. Für das Supply Chain Management stellt der Bullwhip-Effekt daher eine erhebliche Herausforderung dar. Es stellt sich daher immer die Frage: Steckt hinter einer steigenden Nachfrage tatsächlich ein nachhaltiger Trend? Soll die Produktions- oder Lagerkapazität tatsächlich angehoben werden oder handelt es sich um einen kurzfristigen Effekt?

Aufgrund der potenziell gravierenden Folgen wird dem Bullwhip-Effekt im Rahmen des Risikomanagements in Lieferketten besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Ziel ist es, die Ursachen des Effekts zu verstehen, einen Bullwhip-Effekt identifizieren zu können und geeignete Maßnahmen vorzuhalten, um seine Auswirkungen und die damit einhergehenden Risiken zu minimieren.

Ursachen

Der Bullwhip-Effekt kann verschiedene Ursachen haben, die im Folgenden näher erläutert werden. Allen Ursachen gemein ist allerdings die Informationsasymmetrie (eng verbunden mit der Prinzipal-Agent-Theory) entlang der Lieferkette. Vorweg: Wir sprechen immer dann von einer Informationsasymmetrie, wenn eine Partei mehr oder andere Informationen hat als die andere Partei. Alle folgenden Ursachen würden keinen Bullwhip-Effekt auslösen, wenn eine Partei der Lieferkette durch ausreichend Informationen erkennt, dass es sich um eine nicht nachhaltige Nachfragesteigerung handelt. Die dafür notwendigen Informationen einzuholen wird allerdings bei besonders komplexen Lieferketten immer schwerer und aufwendiger, deswegen haben wir diese "generelle" Ursache ganz nach vorn gezogen:

Informationsasymmetrie

  • Zeitliche Verzögerung der Informationsweitergabe: Die Übermittlung von Informationen und Gütern entlang der Lieferkette erfolgt in der Regel zeitversetzt. Je länger diese Verzögerungen sind, desto stärker ist der Einfluss auf den Bullwhip-Effekt, denn mit voranschreitender Zeit es ist zunehmend schwerer Sondereffekte mit der erhöhten Nachfragemenge verbinden zu können.
  • Intransparente Informationsweitergabe: Jedes Unternehmen verfügt in der Regel nur über begrenzte Informationen über die gesamte Lieferkette. Dies führt zu einer eingeschränkten Sicht auf die tatsächliche Nachfrage bzw. deren Hintergürnde und führt zu reaktiv anstatt proaktiv getroffenen Entscheidungen. Die Abhängigkeit von anderen Parteien der Lieferkette stellt daher ein großes Problem dar, denn im Sinne der Priznzipal-Agent-Theorie ist Intransparenz unter Umständen sogar absichtlich herbeigeführt. So lässt sich bei einer höheren Nachfragemenge z.B. ein geringerer Stückpreis beim Lieferanten durchsetzen.
  • Ergebnis: Verstärkung des Prognosefehlers. Unternehmen müssen basierend auf historischen Daten zukünftige Nachfragen prognostizieren. Bestehen historische positive Nachfrageausschläge ohne weitere Informationen, erhöhen diese Median und Durchschnitt der Nachfrage. Ohne weitere Informationen lassen sich die Nachfragespitzen nicht ausklammern. In der Folge werden die Sicherheitsbestände erhöht, da fälschlicherweise angenommen wird es handle sich um ein Produkt mit enorm volatiler Nachfrage.